8.2.2019 — 1.6.2019
The Walther Collection zeigt mit Destruction and Transformation: Vernacular Photography and the Built Environment eine Ausstellung, welche die bedeutende Rolle der vernakularen Fotografie bei der Dokumentation des öffentlichen Raumes und den kontinuierlichen Wandel moderner Topographien untersucht. Seit dem 19. Jahrhundert nutzen Ingenieure, Stadtplaner, Architekten, Industrielle und Touristen die Fotografie zur Aufzeichnung und Förderung von Verstädterungsprozessen und bejahten damit eine globale Tendenz, die sich oftmals negativ auf die Ökosysteme, historischen Strukturen oder einheimischen Bevölkerung auswirkte. Die sechzehn aufgestellten Fotoserien sind zwischen 1876 und 2000 entstanden und belegen die häufig nur sehr kurze Lebens- und Nutzungsdauer städtischer und industrieller Bauprojekte, die dabei aber die natürliche Umwelt oftmals dauerhaft zerteilen, ausbeuten und zerstören. In ihrer Gesamtheit hinterfragen diese Bilder die scheinbare Sicherheit und Nachhaltigkeit von ästhetischer und infrastruktureller Planung im Kontext moderner Städte und Architektur.
Serielle Aufnahmen spielten eine wichtige Rolle, die Fortschritte in der baulichen Nutzung und Zerstörung von Landflächen festzuhalten und die Ergebnisse solcher Projekte einer breiten Öffentlichkeit gegenüber zu rechtfertigen oder um deren Auswirkungen nachträglich zu bedauern. Die Ausstellung stellt zwei Örtlichkeiten als Fallbeispiele für den teils dramatischen Wandel der unberührten Landschaft vor: Einerseits die Bergbauregion der Appalachen, wo die Gewinnung fossiler Brennstoffe die gesamte Landschaft sowie die eingesessenen Sozialstrukturen einschneidend veränderte, andererseits die Stadt New York, in der ein unaufhörlicher Kreislauf von Abriss und Neubau die Stadtentwicklung vorantreibt. Ein kleinformatiges Album mit dem Titel The Making of Lynch (1917–20), das in der Ausstellung als Videoprojektion gezeigt wird, dokumentiert den Bau eines Kohlebergwerks im ländlichen Harlan County, Kentucky, das in den 1930er und 1970er Jahren zum Schauplatz gewalttätiger Arbeitskämpfe wurde. Die eindrucksvollen Panoramabilder des Reisefotografen Rufus Ribble aus den 1940er und 1950er Jahren zeigen ergänzend dazu Kohlefelder im benachbarten West Virginia sowie schnell hochgezogene Bergbausiedlungen und raubeinige Kumpel vor ihren Arbeitsgeräten.
Den Bau einer modernen Großstadt thematisieren gleich mehrere Serien dokumentarischer Fotografie, die in New York City aufgenommen wurden – darunter Harvey F. Dutchers Aufnahmen aus dem Jahr 1939, welche die schrittweise Zerstörung der Sixth Avenue Hochbahn sowie die Bilder eines unbekannten Fotografen, der die Sixth Avenue Mitte der 1930er Jahre Haus für Haus fotografisch erfasste und Gebäude zeigt, die längst abgerissen wurden. Andere Werke wie William Christenberrys The Underground Club (1967–2000) und eine Reihe von Momentaufnahmen (1982), die den Abriss des Gebäudes der Möbelfirma Stowers in San Antonio, Texas, dokumentiert, nutzen das Format der zeitbasierten Serie, um die sich ständig verändernde Gestalt von Stadtlandschaften zu betonen. Aus diesen Sequenzen spricht eine typisch modernistische Faszination für die sorgfältige Katalogisierung von natürlichen oder vom Menschen geschaffenen Umgebungen, kurz vor oder während ihrem Verschwinden durch Umbau oder Abriss.
Das Format des Panoramas ist eine neuzeitliche Errungenschaft, die einzelne Gebäude, Menschen oder ganze Landschaften in einer möglichst weiten Sicht erfasst. Die zartblauen Cyanotypien der Konstruktion des berühmten Viaur-Viadukts (1899–1902) in Südfrankreich erinnern über Raum und Zeit hinweg an den die Schlucht überspannenden Einfallsreichtum moderner Ingenieurskunst. Eadweard Muybridges 360-Grad-Panorama von San Francisco aus dem Jahr 1876 ist zwar als Stadtwerbung konzipiert worden, verewigt jedoch auch einen Moment kurz bevor ein gewaltiger Anstieg der Einwohnerzahl die Stadtlandschaft drastisch veränderte. Ein knappes Jahrhundert später archivierte Ed Ruscha 1966 mit seinem aus dem Auto heraus aufgenommenen Panorama des Sunset Strip in Los Angeles die Architektur des ikonischen Boulevards und kritisierte auf subtile Weise die Auswirkungen solcher vom Menschen verursachten Transformationen. Mit einem etwas weniger strengen konzeptuellen Ansatz verzeichnet ein Album eines US-Offiziers Beispiele der allgegenwärtigen englischsprachigen Beschilderungen im amerikanisch besetzten Japan der 1950er Jahre.
Diese sehr unterschiedlichen Fotoserien thematisieren allesamt den Wandel der Zeit und beschreiben den Prozess der Modernisierung als eine Geschichte der rituellen Zerstörung, räumlichen Erneuerung und ökologischen Plünderung. Als Karl Marx schrieb, dass "alles Ständische und Stehende verdampft", verwies er darauf, dass im Kapitalismus alle materiellen Formen, alle Gebäude und die gesamte Infrastruktur so konstruiert sind, dass sie letztendlich in endlosen Gewinnzyklen recycelt werden können. Was die Makroökonomie als "schöpferische Zerstörung" bezeichnet, ist oft nur in Fotografien wie den hier gezeigten überliefert und deutet eine Dynamik der Moderne an, die sich in latenten Spannungsverhältnissen äußert: zwischen Erhalt und Eigentumsrechten, lokaler Ökologie und globalem Kapital, Provinzialität und Weltoffenheit, Tradition und Innovation.
Destruction and Transformation ist die vierte Ausstellung im Rahmen von "Imagining Everyday Life: Aspects of Vernacular Photography", einer mehrjährigen Ausstellungsreihe von The Walther Collection, die sich mit der Geschichte der vernakularen Fotografie beschäftigt – mit Bildern, die in erster Linie für kommerzielle oder private Zwecke und weniger im Zusammenhang mit einer ästhetischen Konzeption entstanden sind.
"Imagining Everyday Life" untersucht die vielfältigen Gebrauchsweisen sowie die gesellschaftliche und historische Bedeutung dieser nicht-künstlerischen Fotografie. Das dazugehörige Programm umfasst fünf Themenausstellungen sowie ein internationales wissenschaftliches Symposium, das im Herbst 2018 in New York stattfand. Die Themenreihe endet 2021 in einer groß angelegten, von Brian Wallis kuratierten Ausstellung in dem sammlungseigenen Museum von The Walther Collection in Neu-Ulm, zu der auch ein umfassender, gemeinsam mit dem Steidl Verlag herausgegebener Katalog erscheinen wird.
Die Südwest Presse über vernakulare Fotografie und Imagining Everyday Life: Engagements with Vernacular Photography